Aktuelles Darmgesundheit

Was hat der Darm mit unserem Gehirn zu tun?

Interview mit Prof. Dr. Michaela Axt-Gadermann

Eine ganze Menge! Viele Emotionen werden im Darm gemacht. Der Volksmund weiß das schon lange: Wenn wir uns freuen, haben wir “Schmetterlinge im Bauch“ und die „Liebe geht durch den Magen“. Sind wir ängstlich, haben wir „Schiss“. Wir hören auf unser „Bauchgefühl“, aber manche Entscheidungen „bereiten uns Bauchschmerzen“.


Inzwischen bezweifeln selbst seriöse Wissenschaftler nicht mehr, dass in unserm Verdauungstrakt der Schlüssel für Wohlbefinden und Stressresistenz liegt, ebenso wie für die körperliche und geistige Gesundheit. Unsere Gemütslage ist viel stärker von der Darmflora und der Gesundheit des Magen-Darm-Traktes abhängig, als wir es uns bisher vorstellen konnten. Der Darm mit den darin lebenden 100 Billionen Mikroorganismen und unser Gehirn kommunizieren pausenlos über Nervenverbindungen, Hormone und andere Botenstoffe. Dadurch entsteht ein unterschwelliger Stimmungsteppich. Ob wir eher zu den Optimisten oder Pessimisten zählen, ängstlich oder zuversichtlich in die Zukunft blicken, glücklich oder unzufrieden durchs Leben gehen, wird von Signalen bestimmt, die die Darmmikroben ans Gehirn senden. Der Verdauungstrakt entscheidet, wie gut wir mit Stress umgehen können und wie tief unser Schlaf ist. Selbst geistige Leistungsfähigkeit, Schmerzempfinden und die Gehirnentwicklung kleiner Kinder lässt sich mit den richtigen Keimen beeinflussen. Und sogar bei Erkrankungen, die wir bisher nur der Psyche bzw. dem Gehirn zugeordnet haben wie Depressionen, ADHS, Parkinson oder Multipler Sklerose scheint die Darmflora eine wichtige Rolle zu spielen.

Auf welche Weise hilft die gesunde Darmflora dem Gehirn?

Stoffwechselprodukte der Darmbakterien entscheiden, wie gut sich die Abwehrzellen des Gehirns entwickeln und später funktionieren. Wichtig für die Gesundheit der grauen Zellen ist nämlich ein intaktes Abwehrsystem im Gehirn. Vor allem die hirneigenen Fresszellen spielen eine entscheidende Rolle bei der Beseitigung schädlicher Eiweißablagerungen, die Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson auslösen können. Doch diese funktionieren nur mit Fettsäuren, die von den Keimen im Darm gebildet werden können. Fehlt den Immunzellen des Gehirns das „Benzin“, verkümmern sie und können auf Entzündungen, Keime oder andere Gefahren fürs Gehirn nur noch ganz schwach reagieren. Ist die Darmflora gestört, nimmt das Gehirn Schaden.
Tötet man zum Beispiel bei Mäusen mit Hilfe von staken Antibiotika die Darmflora ab, vergessen diese bereits Gelerntes. Erhalten Säuglinge mehrere Monate lang Milchsäurebakterien, die die Darmflora stärken, leiden sie im Schulalter sehr viel seltener unter ADHS und Autismus. Transplantiert man MS-Patienten das Darmmikrobiom eines Gesunden, gehen Schübe und Krankheitsaktivität messbar zurück. Das alles belegt, wie wichtig ein gesunder Darm für ein leistungsfähiges und gesundes Gehirn ist.

Stress ist ja etwas, das jeden von uns betrifft. Wie kann die Darmflora helfen, wenn ich im Stau stehe oder eine wichtige Arbeit fertig werden muss?
An den Umständen kann die Darmflora leider nichts ändern, aber sie trägt entscheidend dazu bei, wie wir den Stress empfinden und verarbeiten. Eine gesunde Darmflora hat offensichtlich ähnliche Auswirkung auf unser Stressempfinden wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung und schützt vor psychischen Beschwerden. Das zeigen zahlreiche Versuche.
Zu Studienzwecken aßen Frauen vier Wochen lang zweimal täglich einen Joghurt, der einen speziellen Bakterienmix. Eine weitere Gruppe verzehrte einen Joghurt ohne Bakterien. Nach vier Wochen Genuss des probiotischen Milchprodukts fühlten sich die Teilnehmerinnen nicht nur subjektiv wohler, waren weniger ängstlich und gestresst, sondern auch deren Stresshormonspiegel sank messbar ab. Schaute man dann mithilfe bildgebender Verfahren den grauen Zellen bei der Arbeit zu, ließ sich feststellen, dass die „guten“ Bakterien sich auch nachweislich positiv auf die die Gehirnaktivität auswirkten. Die Gehirnzellen reagierten weniger stark auf negative, stressauslösende Reize.
Doch die richtigen Darmkeime schützen nicht nur vor Stress, umgekehrt hat auch Stress Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Darmflora. Studenten haben während der besonders stressigen Examens-Zeit weniger der gesunden Milchsäurebakterien im Stuhl als in der entspannteren Zeit zu Beginn des Semesters.

Wie kann ich meine Darmbakterien bei Ihrer Arbeit unterstützen?

Am besten mit Messer und Gabel! Unsere Darmflora passt sich innerhalb weniger Tage unserem Essverhalten an. Wer sich einseitig ernährt, kann auch nur eine eintönige, wenig leistungsfähige Darmgemeinschaft erwarten. Für Wachstum und Vermehrung benötigen die Darmkeime vor allem pflanzliche Ballaststoffe. Nur bestimmte Pflanzenfasern, so genannte Präbiotika, stellen aber das ideale „Futter“ für die Mikroorgansimen dar. Diese findet man in eher ausgefallenen Wurzelgemüsen wie Topinambur oder Pastinake, aber auch in Haferflocken, Spargel, Roggenbrot, Lauchgemüse und Hülsenfrüchten und anderen Nahrungsmitteln.
Daneben fördern auch Sport und regelmäßige Bewegung eine starke Darmflora.

Also in Zukunft kein Feierabendbier, keine Schokolade, kein Wein, dafür aber jeden Abend joggen und Gewichte stemmen?
Ganz im Gegenteil. Sowohl Bier als auch Rotwein enthalten präbiotische Inhaltsstoffe, die die Darmflora pflegen und gesund erhalten. In Maßen ist das also völlig ok. Und auch dunkle Schokolade oder Kaffee nähren die gesunden Keime.
Bei Bewegung geht es nicht um Höchstleistungen, sondern darum, den Alltag bewegter zu gestalten. Öfters mal Treppen steigen oder Gänge zu Fuß erledigen. Schöner Nebeneffekt: Die Verdauung funktioniert dann auch besser.

Wagen Sie einen Blick in die Zukunft?

In der Vergangenheit haben wir uns vor allem mit den gefährlichen, schädlichen Keimen beschäftigt und versucht, diese zu töten. Auch nützliche Bakterien sind dabei auf der Strecke geblieben. In Zukunft sollten wir uns verstärkt mit den hilfreichen Keimen befassen und den bakteriellen Schutzwall mit Hilfe der Ernährung, aber auch mit der gezielten Gabe probiotischer, gesundheitsförderlicher Keime stärken.
Möglicherweise kann zukünftig die Therapie von Depressionen, Stress und anderen psychischen Erkrankungen im Darm ansetzen. Auch Übergewicht lässt sich wahrscheinlich am besten über die Darmfloraschiene behandeln.
Anstelle von Antibiotika kann man gefährliche Bakterien demnächst wahrscheinlich mit nützlichen Keimen bekämpfen. Bei Durchfallerkrankungen funktioniert das ja schon ganz gut. Auch in der Diagnostik könnten Analysen der Darmflora eingesetzt werden. US-Forscher haben kürzlich festgestellt, dass bestimmte Keimstämme in der Stuhlprobe auf ein hohes Darmkrebsrisiko und Darmkrebsvorstufen hinweisen, andere Bakterien jedoch ein Indiz für ein geringes Erkrankungsrisiko sind. Ein entsprechender Test wird derzeit entwickelt.
Es ist sicher noch eine Menge Forschung nötig, aber die Entwicklung geht derzeit in eine vielversprechende Richtung. Bis dahin kann jeder versuchen, selber durch seinen Lebensstil eine gesunde und hilfreiche Darmflora heranzuzüchten.